Zwei unterschiedliche Traditionen – die Wiener Klassik und das spätromantische Virtuosenkonzert – hinterließen unweigerlich ihre Spuren in George Enescus höchst ambitioniertem Konzert für Violine und Orchester. Auch wenn er es unvollendet ließ, ist die Gesamtlänge von sechshundert Takten allein schon Grund zum Staunen. Der erste Satz erreicht fast die Ausmaße der Violinkonzerte von Beethoven und Brahms. Ein auffälliger formaler Zusammenhang entsteht in der erweiterten Einleitung: Wie Beethoven und Brahms benötigt Enescu neunzig Takte, bevor er für den Einsatz des Soloinstruments bereit ist. Ein Beispiel für größtes Glück: unsere Solistin Carolin Widmann! Allein der erste Satz „Allegro moderato“ verwendet drei Themen, die so eindringlich formuliert sind, dass sie auch nach einmaligem Hören noch im Ohr nachklingen. Im Juni 1898 komponierte Enescu seine Fantasie für Klavier und Orchester, ein Werk, das die Ausdruckskraft von Brahms mit der Bravour der Klaviertechnik von Liszt verbindet. Das Fehlen einer Kadenz für den Solisten und die weitreichende Harmonie deuten darauf hin, dass es sich bei dem Werk tatsächlich um eine Fantasie handelt und nicht beispielsweise um den ersten Satz eines unvollendeten Konzerts. Weder die Fantasie noch das Violinkonzert wurden veröffentlicht. Aber da heute fast jeder rumänische Komponist auch Musikwissenschaftler und Enescu-Experte ist, gerieten sie nie ganz in Vergessenheit. Pascal Bentoiu und Cornel Žranu unterstützten Peter Ruzicka, den Dirigenten der beiden hier vorgestellten Tonträger-Premieren, bei der Beschaffung und Ergänzung des eingestreuten Materials. Dadurch wird unser Bild von George Enescu, der nach wie vor ein großer Unbekannter ist, um neue Facetten bereichert – und das Repertoire um zwei herausragende, bisher unbekannte Werke.